7. Gesundheitspolitisches Gespräch: Selbstbehalte im Gesundheitswesen – effektive Patientensteuerung?

Beim 7. Gesundheitspolitischen Gespräch am 23. Oktober 2017 im Linzer Ars Electronica Center drehte sich alles um das Thema „Selbstbehalte im Gesundheitswesen“. Zu diesem äußerst kontrovers diskutierten und emotional besetzten Thema sorgten zwei renommierte Professoren der Universitäten Linz und Innsbruck mit ihren Vorträgen für eine Auseinandersetzung auf wissenschaftlicher Ebene. Dass „Selbstbehalte“ zu den politisch heißen Eisen gehören, zeigte sich jedoch spätestens bei der Podiumsdiskussion mit reger Publikumsbeteiligung.

Die Expertenvorträge

A.Univ.-Prof. Dr. Engelbert Theurl, Professor für Public Finance an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, schuf in seinem Vortrag  über die Wirkungen von Kostenbeteiligungen im Gesundheitswesen einen Überblick über die aktuelle Studienlage. Dabei war besonders erstaunlich, dass die am meisten zitierte RAND-Studie, als bisher größtes Feldexperiment, bereits aus den 70er Jahren und aus den USA stammt. Insgesamt sind die Erkenntnisse der Wissenschaft bisher nicht eindeutig und oft sogar widersprüchlich. Patentrezepte, wie Patienten am effizientesten durchs Gesundheitswesen gesteuert werden können, hat die Wissenschaft keine.

Prinzipiell gibt es jedoch einen Mengeneffekt: Umso höher der Selbstbehalt, desto geringer die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Allerdings werden wirksame und weniger wirksame Leistungen im selben Ausmaß reduziert – die Effektivität des Gesundheitswesens steigt durch Selbstbehalte in Summe also eher nicht. Dr. Theurls Fazit: Mit Patientenselbstbehalten müsse äußerst vorsichtig umgegangen werden und die Steuerung über angebotsbezogene Selbstbehalte sei einfacher.

Univ.-Prof. Dr. Gerald Pruckner, Gesundheitsökonom an der Johannes-Kepler-Universität Linz, referierte über das Projekt „Selbstständig gesund" der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft (SVA). Der Experte evaluierte das Projekt und untersuchte die Wirkung ökonomischer Anreize für einen gesunden Lebensstil und ob es sich dabei um einen wissenschaftlichen Mythos oder eine ernsthafte Reformoption handle. Das Programm der SVA stellte ihren Versicherten die Halbierung des Selbstbehaltes in Aussicht, falls diese im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung vereinbarte Gesundheitsziele erreichen. Eine der Erkenntnisse: Die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen ist aufgrund des Programms um 30 Prozent angestiegen. Allerdings erreicht man Patienten mit schlechterem Gesundheitszustand und geringerem Antrieb, den Arzt aufzusuchen, mit dem Programm weniger. Ein Großteil der erfolgreichen Teilnehmer wies schon zuvor einen guten Gesundheitszustand und mehr Arztkontakte auf.

Die Diskussion

Die Podiumsteilnehmer zeigten sich gegenüber den Ergebnissen aus der Wissenschaft ernüchtert. Alt-Landeshauptmann Dr. Josef Pühringer hätte den Lenkungseffekt durch Selbstbehalte höher eingeschätzt. Ein Selbstbehalt würde seiner Ansicht nach aber das Bewusstsein schaffen, dass die Leistungen im Gesundheitswesen einen Wert haben. Soziale Abfederung sei dabei ein wichtiges Grundprinzip, die Patienten müssten aber auf jeden Fall den Versorgungsweg einhalten.

Auch Präsident Dr. Niedermoser schlug in einen ähnliche Kerbe: „Die Rund-um-die-Uhr-Versorgung durch niedergelassene Ärzte soll auch genutzt werden. Wer den Hausarzt überspringen und lieber direkt zum Facharzt oder in die Spitalsambulanz gehen möchte, dem sollte das auch etwas wert sein." Zu der von Dr. Theurl angesprochenen Steuerung über die Angebotsseite, also sinkenden Honoraren für mehr Leistung, wie sie in Österreich Tradition haben, gab Dr. Niedermoser zu bedenken, dass dies zu Lasten der Ärztinnen und Ärzte ginge und damit ungerecht sei.

Dr. Herwig Lindner, Präsident der Ärztekammer für Steiermark, sagte in der Diskussion, man solle die angebotsbezogenen Selbstbehalte für die Ärzteschaft harmonisieren. „Das würde Verwaltungskosten sparen. Empfehlenswert wäre, Leistungskataloge mit wirksamen Leistungen zu entwickeln, die dann von der Kasse übernommen werden – und für Leistungen, deren gesundheitliche Wirkung minimal ist, einen Selbstbehalt zu verrechnen."

Für Dr. Michael Müller von der SVA Wien ist das ursprüngliche Ziel des Projekts „Selbstständig gesund" erreicht, denn das war eine Steigerung der Vorsorgeuntersuchungen. Diese Zahlen haben sich durch das Projekt auf einem neuen, höheren Niveau eingependelt.

Ärzte aus dem Publikum berichteten aus ihrer täglichen Praxis: „Selbstbehalte haben sicher einen Effekt, denn Patientinnen und Patienten der SVA überlegen sich sehr genau wann sie kommen, während Versicherte der GKK wesentlich häufiger zum Arzt gehen."

 

Die beiden Vorträge und weitere Beiträge zum Thema wurden in der Zeitschrift für Gesundheitspolitik - Ausgabe 02/2017 veröffentlicht.